Die Glockenwiese – eine ausgediente Kirchenglocke und pflegefreie Gräber

Wandel im Glauben, Wandel in der Bestattungskultur

Die Art der Bestattung, die Menschen für sich selbst oder ihre Nächsten wählen, ist abhängig von den Glaubensvorstellungen des Einzelnen beziehungsweise seiner kulturellen Prägung. Wandel in der Bestattungskultur gibt es seit jeher. Davon zeugen unter anderem auch die germanischen und römischen Gräber, die man bei archäologischen Ausgrabungen auf Duisburger Stadtgebiet gefunden hat. Unweit des Abteifriedhofs Hamborn, in Duisburg-Neumühl, konnten germanische Brandbestattungen nachgewiesen werden, bei denen die Verstorbenen verbrannt und ihre Asche in Gefäßen beigesetzt wurden. 

Spätestens seit der Zeit Karls des Großen waren solche Bestattungen hier wie auch in seinem gesamten Herrschaftsgebiet verboten. Er veranlasste per Beschluss und unter Strafe, dass sich christliche Bestattungsriten durchsetzten: Erlaubt waren nur noch Körperbestattungen auf Kirchhöfen, also auf den Friedhöfen, die rings um Kirchen angelegt wurden. Über viele Jahrhunderte war diese Art der Beisetzung die einzig im katholischen Europa praktizierte. Mit Martin Luther und der Reformation gab es eine erste Änderung dieser strikten Regelungen: Die unmittelbare Nähe des Bestattungsplatzes zur Kirche wurde als nicht mehr wichtig angesehen. So etablierten sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte Friedhöfe, die außerhalb der Orte und fernab von Kirchen lagen. Und auch anderen Bestattungsformen wie Wald- oder Seebestattungen wurde so der Weg bereitet.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wählen Menschen verstärkt Feuerbestattungen für sich oder ihre Lieben. Seit den 1960er Jahren ist dies auch in der katholischen Kirche eine akzeptierte Form der Beisetzung. Ein Urnengrab ist kleiner, kostengünstiger und oft pflegeleichter als ein großes Grab oder gar eine Gruft. Und auch in der Art der Grabwahl bemerken Kirchen, kommunale Friedhofsbetreiber*innen und Bestatter*innen Veränderungen: Immer mehr Menschen entscheiden, sich anonym bestatten zu lassen – ganz ohne individuellen Hinweis wie Namen oder Daten. Die Friedhofsbetreiber*innen passen sich diesen Entwicklungen an: Auf der Glockenwiese entstanden ,,freie Flächen“, da woanders vermehrt Urnenbestattungen stattfinden und auslaufende Grabstätten hier nicht mehr vergeben wurden. Seit 2022 können Angehörige hier pflegefreie Gräber für ihre Verstorbenen belegen. Die Gräber sind umgeben von einem gärtnerisch-natürlich gestalteten Umfeld auf der große und freien Fläche der Wiese. Diese ist zudem durch die rund 250 Jahre alte, noch klingende Glocke geprägt. Zuletzt erklang sie in Hamborn in der früheren Neumühler Martinskirche.

Schweres Gerät erforderlich! Im Oktober 2022 findet die Glocke ihren neuen Platz © Ulrich Wilmes

Doch woher kommen diese Änderungen in den Bestattungsgewohnheiten der letzten Jahrzehnte? Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Gesellschaft tiefgreifenden Änderungen in ihren Glaubens- und Lebenswelten unterworfen. Der christliche Glaube spielt für immer weniger Menschen eine Rolle. Vorstellungen vom Tod und Jenseits sind in einem starken Wandel begriffen und für viele Menschen ist eine Körperbestattung sowie auch das Gedenken an den Verstorbenen an einem festen Ort – seinem Grab – nicht mehr wichtig. Man gedenkt der Verstorbenen vielmehr bei alltäglichen Beschäftigungen im alltäglichen Miteinander. Auch tragen die Änderungen in den familiären Strukturen dazu bei, dass viele Menschen für sich oder ihre Angehörigen kleine, pflegeleichte Gräber wählen. Die typische Großfamilie, die über Generationen an einem Ort lebt, gibt es immer seltener. Familien werden mobiler und Kinder wohnen immer seltener in der Stadt oder im Dorf ihrer Eltern. Ein regelmäßiger Friedhofsbesuch mit Grabpflege wird daher immer schwerer durchzuführen. 

In vielen Städten und Bezirken – wie auch in Hamborn – spielt der Strukturwandel und die damit einhergehende Änderung in der Bevölkerungszusammensetzung außerdem eine Rolle bei der Änderung der Bestattungsarten. Duisburg-Marxloh und -Alt-Hamborn, beides Stadtteile, die zum Bezirk Hamborn gehören, sind von der Schwerindustrie geprägte Ortschaften. In den 1960er Jahren kamen zahlreiche Arbeiter vornehmlich aus der Türkei hierher, um in den Werken und Fabriken zu arbeiten. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie ab den 1970er Jahren begann die Abwanderung der alteingesessenen Familien. Marxloh wie auch Alt-Hamborn sind heute die Heimat von Menschen, deren Familien einen Migrationshintergrund haben. Viele von ihnen sind Muslime, die ihre Lieben auf muslimischen Friedhöfen oder auch in den Herkunftsländern ihrer Familien bestatten. Immer weniger Menschen entscheiden sich für ein Begräbnis auf katholischen oder evangelischen Friedhöfen.

Entwicklungen, denen die aktuelle Gestaltung des Abteifriedhofs Hamborn Rechnung trägt.

Und auch die seit Herbst 2022 auf der Wiese aufgestellte Glocke zeugt vom Glaubenswandel in der Gesellschaft. Sie wurde 1731 in der Grafschaft Glatz in Schlesien geweiht und war viele Jahre in der Kirche St. Martin in Neumühl im Einsatz. 2006 wurde die Kirche aufgelassen. Besonders im Bistum Essen kommt es momentan verstärkt zu Umwidmungen oder Abrissen von Kirchen. In vielen Fällen handelt es sich dabei um Kirchenbauten, die unter dem ersten Bischof des Ruhrbistums Kardinal Hengsbach errichtet worden sind. Er setzte sich für das Ziel ein, dass sämtliche KatholikInnen im Ruhrbistum bis zur nächsten Kirche und zum Gottesdienst maximal nur 750 Meter Luftlinie zurücklegen müssen. Die sinkende Zahl der Kirchenmitglieder macht viele dieser Kirchen nun überflüssig.

Der Hamborner Abt Albert schlägt die fest stehende Glocke an © Ulrich Wilmes

Die Glockenwiese mit der ausgedienten Kirchenglocke und den pflegefreien Gräbern auf dem über 1000 Jahre alten Abteifriedhof Hamborn trägt diesen gesellschaftlichen Realitäten Rechnung und vereint den Wandel in Gesellschaft, Glauben und Bestattungskultur auf eindrückliche Weise.

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